Stress und seine Auswirkung auf die Physiotherapie

Im Laufe meiner Praxisjahre habe ich staunend mitverfolgen dürfen, wie bei manchen Patienten der Heilungsverlauf leicht, rasch und nahezu mühelos geschah, wohingegen andere Patienten schwer und mühevoll um minimale Erfolge rangen.

Die Frage, die ich mir natürlich stellte und täglich stelle, ist naheliegend. Woran liegt das?

Wenn Sie das obige Bild kurz auf sich wirken lassen, bemerken Sie die immense Inkohärenz des Gehirns unter Stress. Unser Gehirn ist der Dirigent von Heilung und Regeneration. Stress verursacht ein Chaos im Gehirn, und er verändert unsere Zellbiologie, wie ich weiter unten etwas detaillierter erläutern werde. So beantwortet sich die obige Frage, woran es liegt, dass entspannte, positive Menschen einen deutlich rascheren und unkomplizierteren Heilungsverlauf erfahren, als sensible, ängstliche, sorgenvolle oder traumatisierte Menschen. Wie dies an sich selber zu erkennen und bei Bereitschaft in kleinen Schritten zu verändern ist, werde ich in meinen nächsten Beiträgen erklären. Doch nun möchte ich noch etwas neurowissenschaftliche und biologische Grundlagenerklärung betreiben, denn Wissen und darauffolgende Erkenntnis motiviert zur Wandlung.

Viele Forschungsergebnisse bekräftigen einstimmig die Wirkkraft unserer psychischen Einstellung auf äußere Reize und deren Auswirkung auf unseren Körper. Ich bin davon überzeugt, dass unsere ganz persönliche, gewohnheitsmäßige Stressverarbeitung einen immensen Anteil am Heilungsverlauf hat. Deshalb möchte ich mich in diesem Beitrag dem Stress-Phänomen als individueller Reaktion auf äußere Reize sowie seiner Auswirkung auf unsere Gesundheit widmen, um Ihnen im folgendem Beitrag Kompensationsstrategien vorzustellen.

Nach einem Konzept von Dr. Hans Seyle unterscheidet man zwei Arten von Stress, wobei auch hier die individuelle Interpretation des jeweiligen Stressors ausschlaggebend ist:

Eustress

Das ist die gesunde Art von Stress, die wir bei hoher Motivation, Interesse, Glück erfahren. Dabei wird unsere Aufmerksamkeit und maximale Leistungsfähigkeit gefördert. Die dafür verantwortlichen positiven Stressoren werden also nicht als lebensbedrohlich oder unangenehm interpretiert und wirken auch bei langfristigem Auftreten positiv auf uns. Selbst bei schweren Krankheiten kann die persönliche Bewertung derselben zu Eustress führen, und somit zu einer positiven Herangehensweise, sodass die Situation nicht als bedrohlich wahrgenommen wird, im Gegenteil sogar als Herausforderung.

Disstress

Disstress hingegen ist die ungesunde Art von Stress. Es ist die Reaktion auf bedrohliche, unangenehme oder als überfordernd empfundene negative Stressoren. Allerdings wird er erst als negativ empfunden, wenn er häufig oder dauerhaft auftritt und/oder psychisch nicht verarbeitet werden kann.

Die üblichen Anforderungen unseres Alltags bewirken situationsbedingt einen mehrmals erhöhten Stresspegel, um zu überleben. Wenn Stress nur zeitweise und situationsbedingt auftritt, anschließend also wieder nachlässt und der Körper sich regenerieren kann, ist das gut zu bewältigen, das hat die Natur so vorgesehen und das ist überlebensnotwendig. Müssen wir einem Auto rasch ausweichen, reagiert unser Körper mit der Ausschüttung von Stresshormonen, und diese Ausschüttung ist mit Abschluss der Gefahrensituation beendet.

Gesundheitsschädlich wird Stress also erst, wenn er chronifiziert. Das müssen nicht zwingend äußere „reale“ Faktoren sein. Ausreichend ist bereits unsere gedankliche Vorstellung von Stressoren. Sie bewirken nämlich tatsächlich dieselbe körperliche Reaktion wie eine real stattfindende Stress-Situation. Zwar in abgeschwächter Form, allerdings durch ihre Chronifizierung nicht minder schädlich. Kreisen unsere Gedanken also permanent um unsere Sorgen, um unsere Erkrankung oder um den wahrgenommenen Schmerz, dann schaden wir unserem Körper im Heilungsverlauf.

Dafür ein kurzer Ausflug in unsere Zellbiologie:

Eine körperliche Stressreaktion benötigt 1.400 physikalische und chemische Reaktionen und verbraucht dafür mehr als 30 verschiedene Hormone (zB Adrenalin, Noradrenalin, Cortisol) und Neurotransmitter. Eine wichtige Rolle in der Stressregulation spielt das Hypothalamus–Hypophysen– Nebennierensystem (HHN). Im Hypothalamus wird das Corticotropin-Releasing-Hormon gebildet. Dieses Releasing-Hormon gelangt zum Hypophysenvorderlappen, wo es die Abgabe des Adrenocorticotropem-Hormons (ACTH) stimuliert. Dieses gelangt über den Blutweg zur Nebenniere, wo es die Bildung und Abgabe von Cortisol sowie Adrenalin und Noradrenalin einleitet. Die wesentlichen Koordinatoren für unsere Stressverarbeitung sind also das vegetative Nervensystem, welches sofort reagiert, und das Hormonsystem, welches später einsetzt und dafür länger anhält.

Für unsere Gesundheit hat dies folgende beträchtliche negative Auswirkungen:

  • Erhöhung der Atem-, und Herzfrequenz, des Blutdrucks, des Blutzuckers und der Muskelspannung
  • Schwächung unseres Immunsystems
  • Mindere Verwertbarkeit von Glukose
  • Erhöhung des Knochenschwunds
  • Reduktion von Muskelmasse
  • Beträchtliche Behinderung von Wundheilung und Zellregeneration (DNA-Reparatur)
  • Erhöhte Fettansammlung
  • Beeinträchtigung von Gedächtnis und Lernen
  • Zerstörung von Gehirnzellen
  • Entgleisung unserer Affekte/Impulsivität
  • Depression/Panik/Angst
  • Schlafstörungen
  • Veränderte Körper- und Schmerzwahrnehmung
  • Neigung zu Suchtverhalten

Wenn man diese Auflistung liest, ist es offensichtlich, dass gefühlter Stress auch unserem Körper schadet und nicht nur den Heilungsverlauf behindert, sondern auch neue Krankheiten entstehen lassen kann. Im folgenden möchte ich Eustress und gesunden kurzfristigen Disstress etwas beiseite lassen, um vorwiegend auf den chronischen Disstress einzugehen, der für Sie als Patienten ein wesentlicher, obgleich negativer Faktor ist, weil er den Heilungsverlauf beeinträchtigt.

Was ist chronischer Disstress?

Chronischer Disstress ist die körperliche und verstandesmäßige Reaktion auf jeglichen Druck, der unser normales inneres Gleichgewicht stört. Diese wiederholte individuelle Reaktion auf äußere Reize aufgrund einer persönlichen inneren, oftmals völlig unbewussten Einstellung tritt auf, wenn wir merken, dass Ereignisse nicht unseren Erwartungen entsprechen, und wir unsere Reaktion auf diese Enttäuschung oder diesen Schock nicht in den Griff bekommen. Diese Reaktion äußert sich in Anspannung, Frustration oder Widerstand und bringt uns körperlich und psychisch aus dem Gleichgewicht. Wenn dieses Gleichgewicht über lange Zeit gestört ist, werden wir handlungsunfähig und gewöhnen uns nach und nach an die Unausgewogenheit. Wir halten diese Gefühlszustände dann für normal. Daraus entsteht eine innere gestresste Einstellung, denn wir können unsere um den Stressfaktor kreisenden Gedanken einfach nicht mehr zur Ruhe kommen lassen. In weiterer Folge verlieren wir allmählich auch unsere Körperwahrnehmung, und unsere Schmerzschwelle sinkt, das bedeutet, wir nehmen sowohl körperliche als auch seelische Schmerzen viel intensiver wahr. Das liegt an der zunehmenden Inkohärenz unseres Gehirns.

Drei wesentliche gesundheitliche Auswirkungen von Stress

Impulsivität durch verminderte Aktivität des präfrontalen Cortex

Wenn unser Gehirn unter Stress gesetzt wird, stellt der präfrontale Cortex (Stirnlappen) seine Funktion weitgehend ab. Damit Informationen in unserem Gehirn verarbeitet werden können, werden sie immer primär zum präfrontalen Cortex gesendet, der sie bewertet und über weitere Reaktionen entscheidet, diese plant und an den motorischen Cortex weiterleitet. Unter Stress wird dieser normale Vorgang unterbrochen, da ja stammesgeschichtlich zum Überleben keine Zeit für Einordnung und Planung blieb. Die Information gelangt also sofort in den motorischen Cortex. Wir können dann nur noch impulsiv-reaktiv handeln, in einer so genannten „Kampf-oder-Flucht-Reaktion“. Dadurch werden wir deutlich gereizter und reagieren bei geringen Anforderungen nicht mehr überlegt und kontrolliert. Der präfrontale Cortex ist außerdem für unser soziales Denken verantwortlich. Wir werden daher auf Dauer auch deutlich weniger empathisch anderen Menschen gegenüber.

Angst/Depression durch übermäßige Aktivität der Amygdala

Gleichzeitig wird unsere Amygdala (Mandelkern) stark durchblutet und  produziert Stresshormone. Die Amygdala gleicht alle Informationen, die wir bereits einmal erlebt haben, mit neuen ab. Erkennt sie beispielsweise Stressoren aus der Vergangenheit, aktiviert sie wieder unmittelbar Stresshormone. Die Folge sind entsprechende emotionale Zustände wie Angst, Panik, Trauer, Wut, Aggression, Herzrasen, Schwindel oder Übelkeit. Dabei spielt die Vernetzung des Gehirns eine wesentliche Rolle. Die Meldungen der Amygdala an das Großhirn sind deutlich schneller, als umgekehrt. In unserer stammesgeschichtlichen Entwicklung lernte das Gehirn auf Gefahren zu reagieren, indem die Amygdala sich blitzschnell einschaltete, noch bevor es zum rationalen Denken kommt. Erst wenn es dem rationalen Denken gelingt, die Situation zu entschärfen, erreicht dieses rückwirkend die Amygdala, die mit der Beendigung der Hormonausschüttung reagiert, wodurch eine Abnahme der emotionalen und körperlichen Reaktionen erfolgt.

Je länger das Gehirn nun mit chronischem Stress konfrontiert ist, umso mehr wird der präfrontale Cortex ausgeschaltet und die Amygdala durch das Hormon Cortisol aktiviert. Der Teufelskreislauf entsteht, denn die Stresshormone werden nun bereits selbstständig vermehrt produziert. Unsere nervliche Belastbarkeit ist durch die Inaktivität des präfrontalen Cortex mehr und mehr reduziert und die Wahrscheinlichkeit steigt, dass wir immer öfter in neue Stressreaktionen verwickelt werden, sie nahezu anziehen, denn positive Gedanken und erholsamer Schlaf sind durch die nun beinahe unterbundene Serotonin-Ausschüttung kaum noch möglich.

Wundheilungsstörung und Hemmung des Zellwachstums

Ein durch Stress bedingter erhöhter  Cortisol-Spiegel vermindert die lokale Produktion von Zellwachstum und den die Zelldifferenzierung regulierenden Proteinen, sowie den Abbau von Kollagen und anderen extrazellulären Matrixmolekülen.  Zudem verzögert Cortisol den Abbau von nekrotischem Gewebe und hemmt die Einwanderung von Leukozyten in das Wundgebiet. Dies führt sowohl zu einer erhöhten Anfälligkeit für Wundinfektionen als auch zu einer erschwerten Wundheilung. Das durch Stress ausgesandte Noradrenalin vermindert die Beweglichkeit von Keratinozyten und Fibroblasten, indem es an Beta-Rezeptoren bindet. In der Folge werden jene Signalwege, die für die Beweglichkeit dieser Zellen verantwortlich sind, blockiert.  Im Bereich des Hippocampus führt die erhöhte Cortisol-Produktion zur Ausschüttung eines erregenden Signalüberträgerstoffes (Glutamat), der in höheren Konzentrationen und bei längerer Wirkung schädlich für unsere Nervenzellen ist. Weiters werden durch vermehrtes Cortisol Wachstumsfaktoren und die Ausbildung neuer Nervenzellen-Verbindugen gehemmt.

Stress kann dann natürlich auch indirekt zur Wundheilungsstörung beitragen, indem er Verhaltensmuster fördert, die sich auf die Heilung negativ auswirken. Alkoholkonsum z.B. verzögert die Zellmigration und Kollagenproduktion in der Wunde. In Zusammenhang mit Alkoholkonsum steht meist auch eine schlechtere Ernährung. Auch Rauchen wird mit verzögerter Wundheilung in Zusammenhang gebracht. Mehrfache Schlafunterbrechungen vermindern die Wachstumshormon-Produktion, und auch ein Mangel an Bewegung, der ebenfalls zu erhöhten Cortisol-Spiegeln führt, hat Wundheilungsstörungen zur Folge.

Nun können Sie hoffentlich nachvollziehen, wie schädlich unser größtenteils als „normal“ empfundenes Leben für unsere Gesundheit sein kann. Natürlich stellt sich hier die weitere, sehr wichtige Frage, nämlich: Ab wann wissen Sie für sich selber, dass Sie sich im chronischen Disstress-Zustand befinden, und was können Sie dagegen unternehmen?Darauf möchte ich in meinen nächsten Beiträgen eingehen. Für die Hochmotivierten vorweg: Die effektivsten Stressbehandlungsmethoden sind Tiefenentspannung und Meditation!